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21.6.1996: Lockerung der Ladenschlusszeiten
Wankte die Republik? Sollte die geordnete, adrette Welt der Deutschen aus den Angeln gehoben werden? Man hätte es meinen können an diesem 21. Juni 1996 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages: "Wer am Sonntag frische Brötchen haben möchte, der muss in einem aufgeklärten Land in Zukunft frische Brötchen kaufen können. Das ist das grundsätzlich andere Denken der Koalition gegen das der Opposition."

"Wollen Sie eigentlich noch mehr 590-DM-Arbeitsverhältnisse haben, wollen Sie eigentlich noch mehr ungeschützte Arbeitsverhältnisse haben, wollen Sie noch mehr Sozialhilfeempfänger produzieren? Jetzt ist Feierabend. Wir werden der Gesetzesvorlage nicht zustimmen."

Es war das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluss und zur Neuregelung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien, das die Abgeordneten so in Rage brachte. Die damalige Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP stritt für eine Liberalisierung, SPD, die Grünen und die PDS hielten dagegen, und damit waren sie nicht allein.

Eine Bastion geriet ins Wanken

Im Schulterschluss zwischen Ladenbesitzern und Gewerkschaftern war das Ladenschlussgesetz seit 1956 so etwas wie eine uneinnehmbare Bastion gewesen. Erst der lange Donnerstag mit seiner Öffnungszeit bis 20.30 Uhr hatte ein wenig Bewegung in die starre Front gebracht, vor allem, weil er bei den Kunden auf breite Resonanz stieß: "Hervorragend."

"Sie sehen doch, dass wir jetzt gerade einkaufen gehen. Und das nur, weil wir um halb sechs immer Feierabend haben und dann keine Chance mehr zum einkaufen. Also super."

"Es ist auch eine tolle Zeit. Wir haben zwei Kinder zu Hause, die brauchen uns nachmittags noch wegen der Hausaufgaben oder sonstiger Sachen. Und jetzt hat man Zeit, und dann kann man gehen."

Doch die 3,5 Mio. Beschäftigten im Einzelhandel Ost und West und der mächtige Einzelhandelsverband blieben ablehnend. Es hieß sogar, die Polizei müsse ihre Einsatzpläne für die Zeit nach 18.30 Uhr überdenken und die Nachrichtensendung "Tagesschau" müsse dann aber von 20.00 auf 21.00 Uhr verlegt werden.

Argumente und Gegenargumente

Außerdem, so meinten die Gegner, seien die meisten Verbraucher mit den geltenden Öffnungszeiten doch zufrieden - ein Argument, auf das Wolfgang Gerhardt (FDP) damals konterte: "Wenn elf Prozent der Verbraucher mehr Einkaufsmöglichkeiten möchten, wenn auch von den siebzig Prozent der Verbraucher, die mit den jetzigen Zeiten einverstanden sind, mindestens abends eine Verlängerung gewünscht wird, wer begründet mir dann, warum eine freiheitliche Gesellschaft die daran hindert, zu Zeiten einzukaufen, wo sie einkaufen möchten und Einzelhändler daran zu hindern, ihre Geschäfte zu den Zeiten zu öffnen, wo diese Menschen einkaufen möchten."

Da die Verbraucher bereit waren, außergewöhnliche Einkaufszeiten mit höheren Preisen zu honorieren, belegten die steigenden Verkaufszahlen an Tankstellen. Für den damaligen Arbeitsminister Norbert Blüm ein geradezu zwingender Grund für eine Liberalisierung der Ladenschlusszeiten: "Manche Tankstellen, die erscheinen mir ein Kaufhaus mit angeschlossenem Benzinverkauf. Im Vorgarten Benzin und in der Tankstelle das große Kaufhaus. - Bahnhöfe - Wir leben in Europa. Wie wollen Sie in grenznahen Gebieten eigentlich mit diesem Ladenschluss durchkommen? Sie kommen nur durch, wenn Sie ein Fahrverbot nach 18.30 Uhr werktags und samstags ein Fahrverbot ab 14.00 Uhr einrichten."

Mut zu Veränderungen

Das hätte so mancher Funktionär sicherlich gerne getan, stattdessen blieb ihm nur der Einwand, der Ladenschluss sei im Einzelhandel ein Schutz der Kleinen gegen die Großen. Doch wer sollte das glauben, hatten doch in den Jahren zuvor im Osten wie im Westen trotz frühem Ladenschluss Tante-Emma-Läden mit Verkaufsflächen bis zu 200 Quadratmetern scharenweise schließen müssen. 2000 bis 3000 Händler waren es pro Jahr, im Lebensmittelhandel machten die zehn größten Ketten mittlerweile 80 Prozent des Umsatzes.

Und so meinte damals Wolfgang Gerhardt nicht ganz zu Unrecht: "Die Veränderungsunbereitschaft ist das Problem für den deutschen Einzelhandel, und deshalb geht es auch nicht nur um die Frage, ob man nun eineinhalb Stunden mehr öffnet. Im Kern geht es hier um die Frage, ob diese Gesellschaft überhaupt noch fähig ist, eine Veränderung herbeizuführen und die Kraft hat, etwas neu zu entscheiden. Die Angst vor Veränderung war immer ein schlechter Ratgeber."

Die Veränderung kam, wenn auch knapp. Mit der Mehrheit von nur vier Stimmen wurde das neue Ladenschlussgesetz am 21. Juni 1996 verabschiedet - die Republik, so hätte man tatsächlich meinen können, war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war.


Autorin: Sabine Kinkartz
   
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