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16.11.1992: Ethische Kontroverse
Die Geschichte des sogenannten "Erlanger Babys" beginnt mit einem Unfall. Am 5. Oktober 1992 verunglückt die 18-jährige Marion Ploch mit ihrem Auto auf einer Landstraße. Die schwangere Frau erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma und wird per Hubschrauber in die Universitätsklinik Erlangen geflogen. Drei Tage später stellen die Ärzte ihren Hirntod fest.

Die Eltern von Marion Ploch wollen zunächst die lebenserhaltenden Maschinen ausschalten lassen. Ärzte und Juristen der Erlanger Klinik entscheiden jedoch, dass der 15 Wochen alte Fötus im Leib seiner verstorbenen Mutter ausgetragen werden soll.

Prof. Erich Saling gilt als maßgeblicher Wegbereiter der Perinatalen Medizin, die sich mit Krankheiten und Gefährdungen von Mutter und Kind kurz vor, während und bis sieben Tage nach der Geburt befasst. Zum damaligen Vorgehen der Erlanger Ärzte erläutert er: "Zunächst einmal war ja wichtig, dass es in der wissenschaftlichen Literatur bereits einige vergleichbare Fälle gab, in denen die Kinder auch überlebt haben. Dann war es natürlich eine gewünschte Schwangerschaft, die Frau wollte das Kind ja haben. Und die Organsysteme der Sterbenden, wenn man es so bezeichnen möchte, der sterbenden Mutter, schienen ungestört zu funktionieren. Also aus den Überlegungen heraus ist es medizinisch gesehen nachvollziehbar, dass sie sich dafür entschieden haben."

Der Versuch, das Baby zu retten

Die Eltern von Marion Ploch lassen sich von der Idee, das Kind zu retten, schließlich überzeugen. Sie sagen auch zu, das Kind später großzuziehen. Das medizinische Vorhaben beginnt. Dazu Prof. Saling: "Das wurde umgesetzt, indem man die damals üblichen intensivmedizinischen Maßnahmen eingesetzt hat, und die waren schon sehr weit fortgeschritten.. Das war kein Novum, sondern das war in der Intensivmedizin durchaus üblich. Hier in diesem Falle war das Besondere, dass es eine Schwangere war und diese in ihrem Mutterleib noch einen Fötus hatte."

Vergleichbare Versuche hatte es bereits in Großbritannien und in den USA gegeben, mindestens auch einen in Deutschland. Aber bei keinem war die Zeitspanne zwischen dem Tod der Mutter und der geplanten Kindesgeburt so lange wie bei diesem Fall.

Kritik und Ablehnung

Der Versuch, das Baby zu retten, stößt in der Öffentlichkeit auf zum Teil harte Ablehnung. Es ist unklar, ob ein Kind, das unter solchen Umständen im Mutterleib heranwächst, bleibende psychische Schäden davontragen wird. Den Ärzten wird vorgeworfen, den eigenen Forscherehrgeiz über die Würde der Patienten zu stellen. Die Frage nach dem Recht auf ein würdevolles Sterben wird in der Gesellschaft laut.

Auch Alice Schwarzer, Feministin und Herausgeberin der EMMA, kritisiert das Verhalten der Ärzte: "Ich fand das damals sehr schockierend, und damit stand ich nicht allein. Die Mehrheit der Frauen war darüber schockiert, dass der sterbende Körper der Frau, Marion Ploch, mit einem Blasebalg am Funktionieren gehalten wurde, um diesen Fötus, der daumengroß war, als die Mutter starb, auswachsen zu lassen. Das schien mir doch ein sehr zynisches, menschenverachtendes Experiment an der Universität Erlangen, also eine Entscheidung, sozusagen, für ein wissenschaftliches Experiment auf Kosten der Menschenwürde."

Die Würde der Mutter, die Würde des Kindes

Juristisch sind die Erlanger Ärzte abgesichert. 1992 ist nach Paragraph 218 des Strafgesetzbuches der Schwangerschaftsabbruch strafbar. Ein Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen hätte als solcher gewertet werden können. Außerdem schützt Artikel 2 des Grundgesetzes den Fötus als sogenanntes selbstständiges Rechtsgut, letztlich also als zu schützende, eigenständige Person.

Auf die zunehmende öffentliche Kritik an ihrem Vorgehen gehen die Erlanger Ärzte daher nicht ein. Dazu Prof. Saling: "Man muss bedenken, dass Organismen, besonders solche, die sich entwickeln, außerordentlich anpassungsfähig sind. Es besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass die hirntote Mutter es sich gewünscht hätte, das Kind trotz der Tragik der Situation am Leben zu erhalten, sodass man darin durchaus auch eine human begründete Aufgabe der hier enorm fortschreitenden Medizin sehen konnte, das Leben des Kindes zu erhalten und damit der Würde der Frau als Mutter und der Würde des Kindes zu dienen."

In Würde sterben

Doch es kommt anders: Am 16. November 1992 stirbt der Fötus bei einer Fehlgeburt. Die lebenserhaltenden Maschinen, an die Marion Ploch angeschlossen ist, werden abgeschaltet. Der Großteil der Öffentlichkeit atmet auf, auch Alice Schwarzer: "Ich war sehr erleichtert, dass Marion Ploch in Würde endlich beerdigt werden konnte. Das Ganze war ja wirklich ein Spuk."



Autorin: Oona Klump
 
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