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19.5.1983: Seveso-Gift in Frankreich gefunden |
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Der Inhalt der 41 Fässer ist hochgiftig. 2,2 Tonnen Erde, durchsetzt mit rund 200 Gramm TCDD, im Volksmund Dioxin genannt, tausend Mal giftiger als Zyankali. Würden 200 Gramm Dioxin in eine Wasserleitung eingeführt, so reichte dies, um Millionen von Menschen zu töten.
Die Fässer stammen aus dem norditalienischen Seveso. Dort war das Dioxin entwichen bei einem verheerenden Unfall in einer Chemiefabrik.
Am 10. Juli 1976 entsteht bei der Überhitzung eines Reaktors Dioxin, durch ein defektes Ventil gelangt es ins Freie. Es gibt weder Warnsysteme noch Alarmpläne. Die Giftgaswolke breitet sich in der Umgebung aus. Erst 27 Stunden nach dem Unfall informieren die Verantwortlichen den Bürgermeister und die Polizei. Dass es sich bei dem Gift um Dioxin handeln könnte, das wird nicht erwähnt.
Plötzlich stürzen Vögel vom Himmel und verrecken elend am Boden. Die ersten Kinder kommen mit Durchfall, Übelkeit und Hautjucken in die Krankenhäuser. Erst neun Tage später fällt erstmals das Wort Dioxin.
Das Gebiet rund um die Fabrik wird abgesperrt, in der Umgebung sind insgesamt knapp 30.000 Menschen betroffen von der Giftgaswolke. 1800 Hektar Land sind verseucht, 75.000 Tiere sterben oder müssen getötet werden.
Das Erdreich des verseuchten Gebietes wird abgetragen und in zwei Wannen einbetoniert, die so groß sind wie ein Fußballstadion. Nur das Allergiftigste, nämlich der Inhalt des Reaktionsgefäßes, der wird in 41 Fässer gepackt. Die gilt es nun zu entsorgen.
Auf einem gewöhnlichen Lastwagen passieren die Fässer im September 1982 die italienisch/französische Grenze, beschriftet mit dem den Zollbeamten scheinbar unbekannten Chemiekürzel TCDD. Kein Wort von Dioxin und auch der Herkunftsort Seveso steht nicht in den Papieren. Wenig später wird die Fracht zum letzten Mal gesehen, in St. Quentin, nördlich von Paris - dann verschwindet der Giftmüll spurlos.
Verantwortlich für den Transport ist der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche, denn das Gift stammt aus einer seiner Firmen. Doch die Schweizer beauftragen Mannesmann Italia mit der Entsorgung des brisanten Stoffes. Mannesmann stellt zwar 180.000 D-Mark in Rechnung, gibt den Auftrag aber an zwei andere Firmen weiter. Die heißen Vadir und Spelidec, sind nicht im Handelsregister eingetragen und bestehen jeweils aus einem Briefkasten und aus einem Mitarbeiter.
Als die Fässer verschwunden sind, fühlt sich keiner mehr verantwortlich. Hoffmann-La Roche verweist auf Mannesmann, Mannesmann verweist auf Spelidec. Angeblich nur der Besitzer des beauftragten Transportunternehmens Spelidec, ein gewisser Bernard Paringaud, weiß, wo der Giftmüll ist. Er stellt Hoffmann-La Roche eine notariell beglaubigte Erklärung aus, demnach sei der Müll ordnungsgemäß endgelagert. Wo das Gift ist, dazu allerdings schweigt Paringaud. Schließlich wird er verhaftet, doch auch die Beugehaft bringt ihn nicht zum Reden.
Auch Hoffmann-La Roche und Mannesmann geben sich verdächtig schweigsam, das hört und das spürt man in einem Interview des Schweizer Journalisten Kasper Selk mit Dr. Klaus Gehrmann, dem Pressesprecher von Mannesmann: "Als Bindeglied zwischen Roche und den beiden von ihr eingesetzten Firmen müsste Mannesmann dann doch wohl wissen, wo das Dioxin sich befindet."
"Nein, mal unter uns, wir wissen es nicht."
"Sondern Sie haben auch eine notarielle Beglaubigung von den beiden Transportfirmen bekommen oder wie?"
"Herr Selk, das ist eine ganz schwierige Frage, das weiß ich gar nicht. Das weiß ich nicht. Nur eins weiß ich: Dass wir nicht wissen, wo die Dinger liegen."
In halb Europa sucht man acht Monate lang fieberhaft nach den Fässern. Mal sollen sie auf einer Müllkippe in der ehemaligen DDR sein, mal in einer Deponie in Münchenhagen in Niedersachsen. Die wird geschlossen und durchsucht - ergebnislos. Ist das Gift auf einem deutschen Spezialschiff verbrannt worden oder gar ins Meer geschüttet worden?
Privatdetektive ermitteln, der BND sucht, Hellseher und Wahrsager bieten ihre Hilfe an. Gleichzeitig steigt der Druck auf Hoffmann-La Roche. Viele Ärzte verschreiben keine Produkte der Schweizer Firma mehr.
Gefunden werden die Fässer nur, weil Bernard Paringaux von der Transportfirma Spelidec im Mai 1983 endlich auspackt. Er hatte die Fässer in einem 300-Seelen-Dorf in Nordfrankreich abgestellt. In einem alten Schuppen stehen sie, nur 60 Meter entfernt von einer Schule.
Der Giftmüll wird 1985, also neun Jahre nach der Katastrophe, in Basel verbrannt. Zu diesem Zeitpunkt liegen auch Erkenntnisse über die Folgen des Unfalls für die Menschen in Seveso vor: Die Zahl der Herz- und Kreislauftoten war drastisch gestiegen, die Zahl der Leukämie-Todesfälle hatte sich verdoppelt, die der Gehirntumore verdreifacht. Fälle von Leber- und Gallenkrebs wurden zehnmal öfter erfasst als sonst und auch die Zahl der tödlich verlaufenden Hautkrankheiten stieg um ein Vielfaches.
Autor: Moritz Kleine-Brockhoff
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