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12.1.1912: Erste Mehrheit für SPD
Es war eine langsame, aber unaufhaltsame Erfolgsstory, die da am 12. Januar 1912 zum Durchbruch kam. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gegründet, war die SPD vor allem die Vertretung der Industriearbeiterschaft. Und die hatte sich innerhalb einer Generation zahlenmäßig verdoppelt.

Vergeblich versuchte die Regierung unter dem "Eisernen Kanzler" Bismarck, die Partei klein zukriegen. Zwölf Jahre lang verbot das Gesetz "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" sämtliche Zeitungen, Versammlungen und Vereine der Partei. Aber die Wählerschaft wuchs stetig an - trotz Unterdrückung und Verunglimpfung.

Sinzinger Zeitung: "Deutsche Beamte und deutsche Staatsarbeiter! Die rote Flut steigt höher und höher. Es gilt, ihr einen unerschütterlichen und unübersteigbaren Damm entgegenzusetzen. Den festen Kern dieses Dammes muss die unwandelbare Treue zu Kaiser und Reich, zu Fürst und Vaterland bilden, die im Herzen des deutschen Beamtentums und der deutschen Staatsarbeiterschaft lebt. Denn was ihnen auf religiösem, sittlichen, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet teuer und lieb ist - die Sozialdemokratie will es zerstören. Am 12. Januar und den nachfolgenden Stichwahlen kommt es auf jede Stimme an. Jeder wähle - aber kein Beamter oder Staatsarbeiter stimme für einen Sozialdemokraten."

Mit solchen Tönen versuchte am Vortag der Wahl die "Sinzinger Zeitung" Stimmung zu machen gegen die Sozialdemokratie. Aber vergeblich, am 12. Januar 1912 erreichte die SPD ihr bestes Ergebnis im Kaiserreich. Mit knapp 35 Prozent der Stimmen war sie mit Abstand die stärkste Partei. Das katholische Zentrum folgte mit 16,4 Prozent die Konservativen erreichten nur 9,2 Prozent der Stimmen.

Die Mehrheit der Stimmen bedeutete aber noch nicht automatisch die Mehrheit der Sitze, denn das Wahlrecht der Kaiserzeit benachteiligte die SPD. 1890 hatte sie bei den Reichstagswahlen mit knapp 20 Prozent erstmals die meisten der abgegebenen Stimmen bekommen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts, der gegen sie gerichteten Wahlbündnisse der bürgerlichen Parteien sowie der sie stark benachteiligenden Wahlkreiseinteilung erhielt sie als stimmenstärkste Partei jedoch nur 35 der 391 Mandate.

Diesmal jedoch hatte sie im Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, gegen das Wettrüsten und die Kolonialpolitik einen Verbündeten in der linksliberalen "Fortschrittspartei" gefunden. Mit ihr ging sie 1912 erstmalig ein Wahlbündnis ein, das half, in der Stichwahl am 25. Januar gegen die Konservativen eine große Zahl von Sitzen zu gewinnen. Mit 110 Abgeordneten war die SPD erstmals auch die stärkste Fraktion im Reichstag.

Dennoch: auch als größte Fraktion hatte die SPD nur geringe Einflussmöglichkeiten auf die Politik des Reiches, denn laut Verfassung waren der Reichskanzler und seine Minister nur dem Kaiser gegenüber verantwortlich, nicht aber dem Parlament. Der Reichstag konnte nur über die Bewilligung oder Ablehnung von Geldmitteln, das Budgetrecht, Einfluss nehmen.

Da der Kaiser zudem den Reichstag jederzeit auflösen konnte, war das Ansehen und das Selbstbewusstsein der Parlamentarier eher gering. Wie wenig selbst die Abgeordneten von der Institution hielten, zeigt sich an der Äußerung eines deutschkonservativen Reichstagsabgeordneten aus dem Jahre 1910:

"Der König von Preußen und der deutsche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!"

Was auch hin und wieder geschah. 1906 z.B. hatte der Reichskanzler von Bülow das Parlament auflösen lassen, weil es ihm kein weiteres Geld für den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika gegen die Hottentotten bewilligen wollte.

Zwei Jahre nach dem Wahlerfolg von 1912 standen die Sozialdemokraten erneut vor der Frage der Bewilligung von Kriegskrediten. Diesmal allerdings stimmten sie zu: mit der Bewilligung der Kriegskredite, und der Einstellung jeder Opposition während der Dauer des Krieges versuchte die SPD gegen das Image der "vaterlandslosen Gesellen" anzugehen:

"Die Folgen der imperialistischen Politik sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Wir stehen vor der ehernen Tatsache des Kriegs. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich."

Autorin: Rachel Gessat
   
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