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4.5.1919: Studentenprotest in Peking
Aufruhr mitten in Peking - 3000 Studenten verteilen Flugblätter am "Tor des Himmlischen Friedens". An einem Ort, der noch so manche Studentendemonstration erleben sollte.

Die Studenten sind entschlossen, ihr Land zum Widerstand zu erwecken - Widerstand gegen den Versailler Vertrag, der ehemals deutsches Kolonialgebiet Japan zugesprochen hat, und Widerstand gegen die eigene Regierung, die den Vertrag unterzeichnen will. Sie ziehen durch die Stadt, viele Menschen an den Straßen weinen. Sie ziehen durchs Diplomatenviertel und stürmen das Haus des Japan-freundlichen Verkehrsministers und Staatsbankchefs. "Nieder mit den Verrätern", rufen sie.

Japan hatte die Wirren des Ersten Weltkriegs in Europa genutzt, um einen Großteil der ostchinesischen Provinz Shandong unter seine Kontrolle zu bringen. Es handelte sich um die Hafenstadt Qingdao und ihre Umgebung - ein Gebiet, das Deutschland 1898 besetzt und in der Folge auf 99 Jahre gepachtet hatte.

Nachdem das Deutsche Reich im Krieg besiegt war und US-Präsident Wilson seine 14 Punkte vom Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündet hatte, war man in China optimistisch, diese Gebiete nun von Japan zurückzubekommen. Die chinesische Delegation auf der Friedenskonferenz in Versailles erhielt große Unterstützung aus der Heimat, vor allem von Studenten - aber vergeblich.

China war zwar keine Kolonie wie Indien, Indonesien oder Vietnam; aber seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich ausländische Mächte Schritt für Schritt attraktive Territorien wie Hongkong und Shanghai einverleibt. Als gedemütigte "Halb-Kolonie" fühlten sich viele Chinesen, daran änderte auch die Abschaffung des Jahrtausende alten Kaisertums 1911 nichts.

Große politische Erfolge brachten die Demonstrationen des vierten Mai und auch der folgenden Wochen nicht. Trotzdem gehört der vierte Mai 1919 zu den bekanntesten Daten der chinesischen Geschichte im 20. Jahrhundert: Danach war plötzlich nichts mehr wie davor.

Der 4. Mai, das war ein Symbol für Chinas Aufbruch in die Moderne, und diese Aufbruchstimmung der Studentendemonstrationen hielt die ganzen 1920er Jahre hindurch an. Die Vierte-Mai-Bewegung, wie sie später genannt wurde, war begierig auf jede Neuigkeit aus dem Westen. Die Kommunistische Partei Chinas entstand damals genauso wie die chinesischen Anarchisten. Auch die moderne chinesische Literatur beginnt mit dem vierten Mai. Die "neue Literatur" wurde sie genannt, "neu" hieß "gut". "Die neue Jugend" hieß eine der wichtigsten Zeitschriften.

Mit dem Alten und mit den Alten rechneten die jungen Intellektuellen des vierten Mai radikal ab, so radikal wie niemand zuvor oder danach; denn in diesem Muff von Jahrtausenden sahen sie die wahre Ursache für Chinas Schwäche und Rückständigkeit. Die "Neue Jugend" schrieb 1919:

"Wir glauben, dass für den Fortschritt unserer gegenwärtigen Gesellschaft Naturwissenschaften und pragmatische Philosophie Vorbedingungen sein sollten und dass Aberglaube und Spekulation abgeschafft gehören. Wir glauben, dass die Achtung der Persönlichkeit und der Rechte der Frau zur fortschrittlichen Entwicklung unserer gegenwärtigen Gesellschaft unbedingt erforderlich ist."

Unterwürfige Frauen, Respekt vor den Eltern - die Werte des Konfuzius galten plötzlich nicht mehr. Familie - das war out, nicht einmal den Familiennamen wollte man behalten, wie sich der Schriftsteller Zhang Yiping erinnerte:

"Ich kannte einen jungen Mann, der die drei Schriftzeichen seines Namens durch Er-Du-Ich ersetzte. Und in der Peking-Universität traf ich am Tor der Philosophischen Fakultät einmal einen Freund, der von einem Mädchen mit kurzen Haaren begleitet wurde. Ich fragte sie: Darf ich mich nach Ihrem Familiennamen erkundigen? Sie starrte mich an und schrie: Ich habe keinen Familiennamen! Es gab auch Leute, die ihren Vätern einen Brief schrieben mit den Worten: Ab dem soundsovielten werde ich dich nicht mehr als meinen Vater anerkennen. Wir sind alle Freunde und gleichberechtigt."

Die meisten Chinesen fanden spätestens das lächerlich.

Wenige Jahre später erfand Mao Tsetung den besonderen chinesischen Weg zum Kommunismus. Einfach das Ausland kopieren, das ging nicht mehr. China zog sich wieder auf sich selbst zurück.

Auch Mao Tsetung war 1918 und 1919 an der Peking-Universität gewesen. Als Bibliothekar.


Autor: Thomas Bärthlein
   
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